Das ist momentan die Gretchen-Frage für viele GA-Besitzer. Denn nach den Sommerferien steht in vielen Fällen die Abo-Verlängerung an und überhaupt der Sommer….
Das Dilemma ist schnell umrissen, Corona hat uns immer noch in seinen Klauen. Je länger es dauert, desto mehr haben Herr und Frau Schweizer Wege gefunden, damit zu leben. Der Beweis unserer evolutorischen Fähigkeiten zur Anpassung sozusagen und die haben auch Auswirkungen auf unsere Mobilität.
Was heisst das für den öV?
Die Pandemie hat quasi den Turbo für eine Entwicklung gezündet, die es schon lange vor Corona gab, die aber bisher von der öV-Branche ignoriert wurde. Die Teilzeitarbeit und das Homeoffice kennt man in unserem Land nicht erst seit Corona. Die pandemiebedingte Homeoffice-Pflicht erzwang nun einen grossangelegten Feldversuch, unter den inzwischen viele Arbeitgeber und Arbeitnehmer einen positiven Strich ziehen. Ein starkes Indiz dafür, dass sich der Arbeitsalltag für-eine-derzeit-noch-nicht-genau-bestimmbare Anzahl Arbeitnehmender dauerhaft verändert haben dürfte. Das jedenfalls ist die Meinung vieler Experten im In- wie im Ausland. Am wahrscheinlichsten dürfte sich für viele eine Hybridform durchsetzen, also eine Mischung aus Büro-Präsenz und Homeoffice.
Dieser Entwicklungsturbo wird aller Voraussicht nach auch dauerhafte Auswirkungen auf die Mobilität haben – in Summe ebenso wie in der Wahl der Verkehrsmittel.
Klarer Verlierer der Krise ist bisher der öV, der als Massentransportmittel stark von Abwanderungen betroffen ist. Er steht im In- wie im Ausland vor der Herkulesaufgabe, seine Kunden zurückgewinnen zu müssen. Die Frage ist «wie»?
Bis vor der Pandemie waren wir ein ausgesprochenes öV-Land. Gemäss politischem Willen soll das so bleiben bzw. weiter gefördert werden.
Natürlich kann man hoffen, dass die Entwicklung nach der Normalisierung der Gesundheitslage wieder automatisch rückwärts verläuft - so wie das beispielsweise der SBB-Chef tut. Ich fürchte jedoch, dass es mehr brauchen wird, um verschlafene Entwicklungen mit einer Pandemie als Garnitur wettzumachen.
«Zuwarten» erschafft keine Chancen, es zementiert nur in der Krise geänderte Verhaltensweisen.
Schon vor der Krise war das öV-Angebot zu wenig auf die Bedürfnisse relevanter Bevölkerungsteile ausgerichtet. Fakt ist: Seit rund 30(!) Jahren geht der Anteil Paarhaushalte mit einem vollzeiterwerbstätigen Partner und einer nicht erwerbstätigen Partnerin stark zurück und das vorwiegend zu Gunsten des Modells mit vollzeiterwerbstätigem Partner und teilzeiterwerbstätiger Partnerin (umgekehrt wird selbstverständlich auch ein Hut draus), oder zwei teilzeitarbeitenden Elternteilen. Die Teilzeitarbeit wächst also schon seit Jahrzehnten stetig.
Immer wieder erhalte ich Meldungen von Menschen, die die Abonnement-Preise - von GA bis Verbundabo – für sich als zu teuer empfinden, weil für sie das persönliche Preis/ Nutzungsverhältnis finanziell keinen Sinn machen. Das dieses «Empfinden» durchaus richtig ist, zeigen die folgenden Grafiken.
Quelle: PUE April 2021
Quelle: PUE April 2021
Quelle: PUE April 2021
Im direkten Verkehr (DV), aber auch in den Verbünden lohnt sich der Kauf eines Abonnements in der Regel nur dann, wenn es regelmässig an mindestens 3 Tagen der Woche über im Durchschnitt eher weitere Distanzen oder dann an mindestens vier Tagen pro Woche genutzt werden kann. Für Teilzeitarbeitende bis 50 % gibt es aktuell kein passendes Abonnement. Es spielt dabei keine Rolle, ob der Fernverkehr oder die Verbundgebiete genutzt werden.
Wenn man bedenkt, dass die mittlere Pendeldistanz nur 14.3 Kilometer beträgt bzw. über die Hälfte der Arbeitnehmenden weniger als 10 Kilometer pendelt, dann ist es mehr als fraglich, ob eins der heutigen Abonnemente für Teilzeitarbeitende oder für Teilzeit-Büropräsente tatsächlich vorteilhaft ist, sofern keine starke Nutzung in der Freizeit vorgesehen ist. Je kürzer die Strecke, desto häufiger muss man fahren, damit sich ein Abonnement lohnt.
Nicht nur die Konditionen der Abonnemente sind fraglich, sondern auch die beiden gängigen Konstrukte – Monats- und Jahresabo – sind in ihrer heutigen Form schon fast aus der Zeit gefallen.
Schweizer öV-Nutzer wählen im Grunde zwischen einem Einzelbillett oder sie entscheiden sich für ein Abonnement auf Monats- oder Jahresbasis.
Ausnahmen bilden das Halbtax und das GA, beide sind keine Abonnemente im klassischen Sinn, sondern das Halbtax ist eine Rabattkarte für einen bestimmten Zeitraum und das GA ein Maximalpreisdeckel für die gesamte Netznutzung.
Bei den Einzeltickets hat man die Wahl zwischen der klassischen Variante, die man vor Reiseantritt kauft oder einer Echtzeitvariante mittels App, die Nutzung wird live erfasst und nach Beendigung abgerechnet.
Bei den Monats- bzw. Jahresabonnementen hat man diese Wahl bisher nicht, obwohl das technisch problemlos möglich wäre. Der Monats- oder Jahresabo-Kunde muss heute vor der Nutzung seine Wahl treffen. Er finanziert vor und trägt das Risiko, dass sich sein gewähltes oder aufgezwungenes (Pandemie) Nutzungsverhalten preis-leistungsmässig im Nachhinein als finanziell nachteilhaft herausstellen könnte.
Ein Blick über den Tellerrand
lohnt, weil auch der öV im Ausland unter den Pandemie-Folgen leidet.
Anders als bei uns setzt man dort mehrheitlich bei den Kundenbedürfnissen an:
Das deutsche Karlsruhe experimentiert derzeit mit sogenannten «Home Zones». Der Preis für die freihändig gewählte Home Zone wird mit einem Algorithmus errechnet. Verlässt man «seine» Home Zone fährt man automatisch zum Distanztarif weiter.
In Österreich wird es eine radikale Vereinfachung mit einem «1-2-3- Klimaticket» geben. Das Abo ist für ein (1), zwei (2) Bundesländer oder für ganz Österreich (3) zu haben.
Im deutschen Rhein-Neckar Gebiet setzt man auf Technik zum Vorteil der Kunden: Ein Bestpreissystem mit Distanztarifen (Luftlinientarif) kommt zum Einsatz. Die Kunden bezahlen am Monatsende. Dank Tagespreislimit und Monatspreislimit gibt es eine Bestpreisgarantie. Aus den Preislimits für mehrere Fahrten pro Tag bzw. pro Monat resultieren Abo-Vorteile, weil im Nachhinein die günstigste Variante abgerechnet wird. Diese «Abo-Vorteile» entsprechen dem tatsächlichen Nutzungsverhalten und müssen nicht vorfinanziert werden.
Auch junge Kunden stehen im Fokus: So will man in Deutschland neu mit einer günstigen landesweiten Flatrate (Bahncard 100 für unter 27-jährige) binden.
In diesen Beispielen hält man die Hürden für den Einstieg in den öV tief. Die technischen Möglichkeiten werden zur Individualisierung und Flexibilisierung des Angebots genutzt und es wird auf einfache, nachvollziehbare Preissysteme gesetzt. Das Risiko des nicht-Ausschöpfen des Abonnements auf Seiten der Kunden wird verkleinert, was das Preis-Leistungsverhältnis für die Kunden attraktiver machen dürfte.
Mein Fazit:
Wir brauchen einen Paradigma-Wechsel weg von Angeboten, die die Lebensrealität des vorigen Jahrhunderts spiegeln, hin zum bedürfnisorientierten Angebot unserer Zeit.
Eingebettet werden müsste dieses Angebot in die Logik des neuen, einfachen und nachvollziehbaren öV-Systems*, das derzeit entwickelt wird und spätestens 2025 implementiert sein soll. Zentral ist dabei die Frage, ob es nur noch Distanztarife, nur noch Zonentarife oder weiterhin eine Mischung aus beiden geben wird.
Wie auch immer die Lösung aussehen wird:
Für eine Rückgewinnung der Kunden müssen die Bedürfnisse aller Kundengruppen Berücksichtigung finden und die Angebote sollten im Gewand der zweitausendzwanziger Jahre daherkommen - das heisst niederschwellig, flexibel, fair und komfortabel.
Will man auf die Bedürfnisse der verschiedenen Berufspendlergruppen eingehen, wäre ein Teilzeit-/ Homeoffice-Abonnement naheliegend.
Nahezu alle berufstätigen Pendler besitzen heute smarte Geräte, was eine einfache Umsetzung eines solchen Angebots innerhalb weniger Wochen möglich machen würde. Flexible, digitale Abonnemente mit verschiedenen Rabattstufen und Maximalpreisdeckel könnten eine moderne Abo-Version werden. Ein solches Abo würde sich an der tatsächlichen Nutzung orientieren und diese entsprechend rabattieren. Im Ergebnis gäbe es keine Vorfinanzierung auf Seiten der Kunden und völlige Freiheit in der Nutzung.
Vom «Wursteln» zur Wurst?
Wieso tut sich die Branche so schwer mit zeitgemässen Entwicklungen? Vielfach hängt es wohl am Schreckgespenst namens «Einnahmenausfälle».
So werden beispielsweise Befürchtungen geäussert, das GA könnte kanibalisiert werden, wenn es ein Teilzeit-/Homeoffice-Abonnement gäbe.
Dieses Problem will ich weder in Abrede stellen noch klein reden. Doch ich gebe zu bedenken, dass Bestandsgarantie keine erfolgversprechende Zukunftsvision ist. Statt im «Bewahren», sehe ich Chancen im «Entwickeln».
Tatsache ist, dass auf unserem sehr gut ausgebautem öV-Netz die Züge im durchschnittlich nur zu rund 30% ausgelastet sind – in normalen Zeiten ohne Pandemie. Jede Auslastungssteigerung nimmt Druck von den Preisen und ist deshalb wünschenswert.
Gelingt es nicht, die Auslastung mindestens auf vor Pandemie-Niveau oder besser höherzufahren, werden Preiserhöhungen unumgänglich sein – wenn man auf einen Rückbau verzichten will.
In meinen Augen gibt es zwei Schlüssel, die ein solches Szenario verhindern können:
1) Bedürfnisorientierte Angebote, welche die (zurück)Gewinnung neuer und alter Kunden ermöglichen und
2) Effizienzgewinne, die durch die Vereinheitlichung und Vereinfachung des Systems entstehen.
Das grosse Projekt «neues öV-System» wurde bereits Anfang 2020 gestartet. Leider sind bis heute noch nicht einmal die Eckpfeiler eingeschlagen.
Das Projektteam besteht mehrheitlich aus Vertretern der Branche und Vertretern der Besteller (d.h. der Kantone als Subventionsgeber). Die Kundeninteressen werden durch keinen expliziten Vertreter repräsentiert. Ist das angemessen? Diese Frage darf man stellen.
Betrachtet man den bisherigen Projektfortschritt, so bin ich geneigt zu sagen: Zu viele verschiedene Melodien im Orchester. Wäre es nicht Zeit für einen Dirigenten?